Empfehlungen für Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte im Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Zeiten von Sorge um Bedrohung durch Krieg
Berichte über kriegerische Auseinandersetzungen und gewaltvolle Überfälle von Staaten oder einzelnen Gruppierungen prägen das heutige Nachrichtenprogramm. Diese Berichte und Bilder hinterlassen selbst uns als Erwachsene fassungslos. Vor allem aber für Kinder und Jugendliche fallen diese stetigen Kriegsinformationen und -bilder aus dem Alltagsgeschehen derart heraus, dass unterschiedliche psychische und physische Belastungsreaktionen auftreten können. Eltern und Lehrkräfte stehen deshalb vor der schwierigen Herausforderung, wie sie mit Kindern und Jugendlichen über das Geschehene sprechen sollen.
Die vorliegenden Hinweise geben auf solche Fragen einige Antworten.
Die Wahrnehmung von Kriegsereignissen in Europa oder in angrenzenden Regionen sowie eventuelle Phantasien über weitere Eskalationsstufen können zur Erschütterung des Grundvertrauens in die Sicherheit der Welt, zu einem Verlust des inneren Gleichgewichts und zu starken emotionalen Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen führen. Diese Reaktionen können sehr unterschiedlich und im Verlauf wechselnd sein. Sie zeigen sich u.a. in Form von Angst, Gefühlen der Hilflosigkeit, Vermeidungs- oder Aggressionsverhalten, körperlichen Reaktionen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, unruhigem Schlaf oder sozialem Rückzug. All diese Reaktionen stehen im zeitlichen Zusammenhang zu dem aufgenommenen Ereignis und sind in der Regel rasch rückläufig.
Menschen haben individuell gut ausgebildete Resilienz- oder Schutzfaktoren, die ihnen helfen, selbst schreckliche Eindrücke gut zu verarbeiten. Welche Verhaltensweisen in diesem Zusammenhang individuell als hilfreich erscheinen, ist von Person zu Person ebenso verschieden wie von der Altersstufe abhängig.
Es macht daher Sinn flexible Angebote bereit zu halten, also einerseits gesprächsbereit zu sein, andererseits aber auch Normalität zu ermöglichen. Struktur zu geben, d.h. regelmäßige Essens-, Pausen-, und Lernzeiten festzulegen, kleine Selbstbelohnungen in den Tag einzuplanen und nachsichtig mit sich selbst und anderen zu sein.
Erziehungsberechtigte, Gleichaltrige und Lehrkräfte sind in solchen Situationen die ersten Ansprechpersonen für Kinder und Jugendliche. Ggf. kann es aber auch erforderlich werden, Unterstützung einzubeziehen. Hier finden Sie als Erziehungsberechtigte, Kinder und Jugendliche sowie Lehrkräfte u.a. Unterstützung in Ihrer örtlichen Schulpsychologischen Beratungseinrichtung (siehe www.schulpsychologie.nrw.de).
Folgende Informationen können Ihnen helfen, Ihre Kinder und Jugendlichen, Ihre Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, die aktuellen Kriegsereignisse einzuordnen und zu verarbeiten.
„Sicherheitsgefühl vermitteln“
Machen Sie Ihren Kindern und Jugendlich zunächst einmal deutlich, dass die Weltgemeinschaft sehr darum bemüht ist und vieles unternimmt, dass kriegerische Auseinandersetzungen schnell beendet werden. Bei Fragen, ob sich Kriege auch nach Deutschland ausbreiten können, sollten Sie wahrheitsgemäß antworten, dass man dies niemals ganz ausschließen kann, dass das aber sehr, sehr unwahrscheinlich ist, von einem Krieg direkt betroffen zu sein.
Machen Sie Kindern und Jugendlichen deutlich, dass die internationale Gemeinschaft umfängliche Unterstützung und Hilfen bereitstellt. Lenken Sie die Aufmerksamkeit gerade auf positive Aspekte, etwa darauf, dass viele Menschen in den Nachbarländern in Sicherheit gebracht werden konnten und die dort angebotene Unterstützung enorm ist.
„Umgang mit Medienberichterstattung“
Vermitteln Sie die zur Verfügung stehenden Medieninformationen so ruhig und sachlich wie möglich. Dabei sollten Sie weder bagatellisieren noch dramatisieren. Versuchen Sie nichts zu äußern, was zusätzliche Beunruhigung von Kindern und Jugendlichen auslösen könnte bspw. über längerfristige Kriegsfolgen.
Schauen Sie mit Kindern gemeinsam spezielle Kindernachrichten und begrenzen Sie den Medienkonsum hinsichtlich der Kriegsereignisse, denn ständige Wiederholungen von schrecklichen Kriegsberichten können zusätzlich belasten. Kinder pauschal von derartigen Berichten fern zu halten, ist wenig sinnvoll. Lassen Sie Ihre Kinder aber entsprechende Medienberichte keinesfalls alleine schauen und begleiten Sie das Gesehene oder Gehörte. Altersgerechte Nachrichten für jüngere Schülerinnen und Schüler finden Sie z.B. hier: Logo oder Neuneinhalb.
Jugendliche benötigen darüber hinaus möglicherweise tiefergehende Informationen von geschichtlichen Hintergrundinformationen und militärischen Sicherheitskonzepten. Falls ein solches Interesse vorhanden ist, kann man im Unterricht und in der Familie bspw. gemeinsam recherchieren.
„Stoßen Sie die Resilienz- und Schutzfaktoren an!“
Kinder und Jugendliche verfügen über erstaunliche Selbstheilungskräfte, die Erwachsene oftmals unterschätzen. Um die eigenen Selbstheilungskräfte zu aktivieren, benötigen Kinder und Jugendliche manchmal lediglich einen kleinen Impuls. Hier können Sie als Erziehungsberechtige und Lehrkräfte Hilfs- und Unterstützungsangebote anbieten und bereitstellen. Gehen Sie mit Ihrem Kind und Jugendlichen so um, wie Sie es sonst auch tun, packen Sie „Kinder und Jugendliche nicht in Watte“.
„Nehmen Sie sich Zeit und kümmern Sie sich!“
Kinder und Jugendliche benötigen jetzt von Erziehungsberechtigten, Freundinnen und Freunden, Bezugspersonen sowie Lehrkräften das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Sie benötigen die „drei Z“: Zeit, Zuwendung und Zutrauen. Bieten Sie Kinder und Jugendlichen Zeit und Gelegenheiten, im sicheren Rahmen über ihre Ängste und Sorgen berichten zu können und zu dürfen. Auch Diskussionen über Überzeugungen, Werte, Religion, Glaube und Ideale können helfen. Hören Sie geduldig und verständnisvoll zu. Für manche Kinder und Jugendliche ist es hilfreich Gefühle aufzuschreiben.
Jugendliche benötigen in diesem Kontext unbedingt adäquate Sachinformationen und Möglichkeiten sowie Räume zu kritischen politischen Diskussionen. So fühlen sich Jugendliche ernst genommen! Achten Sie bei Kindern und Jugendlichen auf eine altersgerechte mediale Aufbereitung der Informationen und nehmen Sie sich selber immer auch mal wieder eine Auszeit von der Nachrichtenflut.
„Der gewohnte Alltag ist wichtig!“
Die gewohnten Strukturen und vertrauten Routinen unseres Alltages wie das Besuchen von Freundinnen und Freunden oder der Schul- und Vereinsbesuch sind eine große Chance, Halt, Sicherheit und Orientierung zu bieten. Sorgen Sie als Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte gemeinsam dafür, dass der gewohnte Tagesablauf bestehen bleibt, sie regelmäßige und gesunde Mahlzeiten einnehmen und ausreichend Schlaf erhalten.
Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte sollten gemachte Absprachen gegenüber Kindern und Jugendlichen unbedingt einhalten, um deutlich zu machen, dass auf Sie in schwierigen Situationen eindeutig Verlass ist.
„Regen Sie Kinder und Jugendliche zu Aktivitäten an!“
Regen Sie Kinder und Jugendliche zu allen Aktivitäten an, die Ihnen vor dem Kriegsereignis Spaß gemacht haben und bei denen sie sich wohlgefühlt haben und entspannen konnten. Denn: Entspannung und Angst sind zwei nicht miteinander vereinbare Gefühlszustände!
Hilfreiche Aktivitäten sind individuell unterschiedlich, dazu zählen beispielsweise: Sich mit Freunden treffen und was Schönes gemeinsam erleben, kreativ zu sein in Form von Spiel, Humor, Musik (zu machen, aber auch zu hören), Kunst, Basteln, jede Form von Bewegung und Entspannung (z.B. Atemübungen), ins Kino gehen, Gerade sportliche Aktivitäten sind hervorragend geeignet, um die Aufmerksamkeit zeitweilig in eine andere Richtung zu lenken und Entspannung zu erlangen.
Geben Sie Kindern und Jugendlichen unbedingt das klare Signal und die eindeutige Erlaubnis, dass sie diese Aktivitäten genießen dürfen, auch wenn die subjektive Bedrohungslage noch andauert.
„Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse!“
Alle Handlungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche sind auch für Erwachsene hilfreich, um mit eventuellen Sorgen und Ängsten besser umgehen zu können. Sie können eine wichtige Stütze sein, wenn Sie es schaffen auch achtsam auf Ihre Bedürfnisse einzugehen. Gönnen Sie sich Pausen wo es geht und beugen Sie Überforderungen vor. Verheimlichen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse keinesfalls, denn Kinder und Jugendlich spüren, wenn ihnen etwas verheimlicht wird. Äußern Sie ehrlich, warum Sie selbst traurig oder besorgt sind.
"Schule als sicherer Ort"
In Zeiten von Flucht aus verschiedenen Kriegsregionen ist Schule auch in aktueller Zeit weiterhin ein wichtiger Ankerpunkt für das Lernen und das psychische Wohlbefinden von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Schule als sicherer Ort ist dabei von entscheidender Bedeutung: Hier wird Resilienz gestärkt durch die sichere Strukturierung des Alltags und durch die Stärkung von Kontrollüberzeugungen und Zugehörigkeit. Belastungen wie die Sorgen um Angehörige und den Verlust von Heimat und sozialen Beziehungen können so aufgefangen werden. Oft machen sich Lehrkräfte Sorgen und fühlen sich hilflos in Bezug auf die Folgen möglicher Traumata bei den geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Auch hier gilt: Allein die schützende Struktur von Schule verhindert in bedeutsamen Maße die Verfestigung von Folgen potentiell traumatisierenden Situationen in ein mögliches chronisches Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS). Sollten bei Kindern und Jugendlichen Symptome wie z.B. Flashbacks (eindringliches Wiedererleben von traumatischen Situationen) vorkommen, empfiehlt es sich, sich mit der lokalen Schulpsychologie zu beraten, um Handlungssicherheit zu bekommen und falls erforderlich eine Vermittlung psychotherapeutischer Hilfe anzubahnen. Viel häufiger als diese Symptomatiken sind aber die "stillen" Probleme der Kinder und Jugendlichen, die um den Verlust von geliebten Menschen und ihrer Heimat trauern oder in Angst und Sorge um ihre Angehörigen sind, die noch in der Heimat verblieben und dort in realer Gefahr sind.
Für eine Vertiefung in diese Themen bietet sich diese Literatur an:
Healing Classrooms – Die Schule als stabilisierendes Umfeld für geflüchtete Kinder und Jugendliche
Karutz, H. (2020): Notfälle und Krisen in Schulen: Prävention, Nachsorge, Psychosoziales Management. S+K Verlag.
Karutz, H. (2020): Notfälle in Schulen: Unglücke, Krisen und Katastrophen professionell bewältigen. Carl Link Verlag.
Lasogga, F. (2012): Psychische Erste Hilfe in der Schule. In: Seifried, K.; Drewes, S., Hrsg. (2012): Krisen im Schulalltag. Kohlhammer. Stuttgart.
Lasogga, F.; Gasch, B., Hrsg. (2011. 2. ergänzte und überarbeitete Auflage): Notfallpsychologie – Lehrbuch für die Praxis. Springer. Heidelberg.
Dreiner, M. (2020): Trauma bei Kindern und Jugendlichen: Für alle, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Broschüre. Zentrum für Trauma und Konfliktmanagement (ZTK). Köln.
Shah, H., Weber, Th. (2017, 3. Auflage): Trauer und Trauma. Die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Helfer und warum es so schwer ist, die jeweils andere Seite zu verstehen. Kröning: Roland Asanger.
Shah, H.; Weber, Th. (2019): Trauer, Trauma, Schuld. Fachvortrag für pädagogische Fachkräfte zum Umgang mit trauernden und/oder traumatisierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Vortrag abrufbar unter: Link.
"Umgang mit möglichen Konflikten"
Immer dann, wenn Konflikte im Weltgeschehen entstehen, können sich diese Konflikte auch im engeren Umfeld zeigen. Dazu kann gehören, dass sich Schüler und Schülerinnen mit bestimmten Ansichten solidarisieren, sich Gruppen zugehörig fühlen oder anschließen, diese Überzeugungen teilen und verteidigen und Andersdenkende wiederum abwerten. Dies kann zu Konflikten mit anderen Schüler- und Schülerinnengruppen oder einzelnen Schüler und Schülerinneninnen führen. Nicht immer haben Konflikte allerdings den Ursprung in den vorliegenden, vielleicht vermeintlich naheliegenden Themen. Manchmal werden Meinungsverschiedenheiten auch instrumentalisiert und Streitigkeiten, die schon lange bestehen, oder auch zufällig entstanden sind, erhalten eine politische Note.
Nicht selten schlagen auch unangenehme Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit in Wut und Aggression um und der vom Zaun gebrochene Konflikt dient ausschließlich dem eigenen Spannungsabbau.
Gleichzeitig kann sich jedoch auch das gegenteilige Bild zeigen. Vermeintlich „rivalisierende“ Gruppen solidarisieren sich, da sie als Gemeinsamkeit den Wunsch nach Frieden und Sicherheit identifizieren.
Aus der Konfliktforschung wissen wir:
- Stress und Anspannung verengen den Blick – führen zu schnellen Wertungen und Schubladendenken, Kooperation und Lösungen scheinen unmöglich.
- Bestehende Konflikte können sich ausweiten oder neu aufflammen.
- Durch Suche nach Bündnispartnern - Solidarisierungen – können zunehmend mehr Menschen an Konflikten beteiligt werden.
- Oberflächlich geht es um einen Streit um die Sache, Recht und Unrecht etc. – dahinterliegende Bedürfnisse z.B. nach Beziehung und Wertschätzung geraten in den Hintergrund.
Was kann man tun?
- Beziehungen halten!
- Gerade in einer Konfliktsituation bewährt sich die professionelle Kompetenz von Lehrkräften, beziehungswahrend Grenzen zu setzen und gleichzeitig den Weg zurück in die Gruppe offen zu halten.
- Aktiv hinschauen und auch präventiv ansprechen.
- Zuhören und Bewertungen von Personen vermeiden.
- Gemeinsamkeiten zum Thema machen um Gräben zu überwinden.
- Jeder Fall ist anders! Nutzen Sie Möglichkeiten der kollegialen Fallberatung, wenn Sie dies an Ihrer Schule bereits etabliert haben. Wenden Sie sich gerne auch an die Schulpsychologischen Beratungseinrichtungen vor Ort, die Sie hier unterstützen können. Gleichzeitig finden Sie dort auch Ansprechpersonen für allgemeine Fragen zu Gewaltprävention und der Umsetzung in Schule.
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